Freitag, 12. Februar 2016

"Angst macht Schule": Leserbrief des Philosophen Bertrand Stern

Welch ein bedauerlicher Beitrag! Ist dessen Autorin nie in den Sinn gekommen, was ein Wandel der normativen Setzungen unserer Zivilisation bedingt: Das, was einst noch galt, muss heute nicht zwangsläufig noch zutreffen! Dass vor zweihundert Jahren, als es weder Computer noch mikroinvasive Chirurgie, weder Weltraumflüge noch Telekommunikation gab, die Zwangsbeschulung als Fortschritt dargestellt wurde, bedingt noch lange nicht, dass wir uns heute, inzwischen im 21. Jahrhundert, danach richten müssten... Vor allem: Hat Ihre Autorin jemals darüber nachgedacht, was inzwischen auch in anderen Bereichen gilt: das angeblich Krankhafte ist vielleicht das eigentlich Gesunde und zugleich das Zeichen eines krankhaften Systems?
Oder sollte ich die Absicht Ihrer Autorin missverstanden haben?
Wollte sie in Wirklichkeit eine subtile weitere Aufforderung zur Gewalt aussprechen und den Druck auf inzwischen immer mehr sich wehrende junge Menschen erhöhen? Genügt ihr vielleicht die Zahl der an der Schule so offensichtlich Gescheiterten nicht? Wessen Interessen vertritt sie, wenn sie ignoriert, dass Deutschland alsbald von dem Problem stehen wird, keine kreativen, genialen, innovativen Menschen mehr zu haben, weil die „Staatsgewalt“ für Uniformität und garantierte Verdummung als schulisches Erfolgsmodell gesorgt hat?
Diese Fragen an Ihre Autorin: Was täte sie, wenn sie selbst als Mutter eines betroffenenjungen Menschen mit dessen klaren „Nein!“ konfrontiert wäre? Würde sie sich vielleicht dann doch dafür interessieren, woran es liegt, dass – allen angeblich für ihn, in Wirklichkeit gegen ihn getroffenen Maßnahmen zum Trotz – er sich weiterhin weigerte, sich dem deutschen Schulanwesenheitszwang zu unterwerfen? Würde sie dann die geliebte Tochter zum Psychiater schleppen und sie anschließend mit Psychopharmaka voll pumpen? Oder den geliebten Sohn von der Polizei abholen lassen – wofür? Aus der Unfähigkeit heraus sich etwas anderes vorzustellen? Muss deshalb – nach der Devise „mehr desselben!“– die Dosis an zwar nicht fruchtender, aber an subtiler und offener Gewalt erhöht werden – obschon klar ist, dass ein Intensivieren von Druck nur das (Grund-)Problem verschlimmert? Und dies alles nur deshalb, weil es sich der Fantasiefähigkeit Ihrer Autorin entzieht, dass vielleicht nicht die Menschen, sondern die Institutionen infrage gestellt werden könnten und müssten? Nur deshalb, weil sie nicht glauben kann oder will, was offensichtlich ist: dass es durchaus Menschen gibt, die sich in dieser industriellen Lernmaschinerie nicht wohl fühlen – und sei es deshalb, weil sie statt konform genial oder originell sind? Lohnt es sich da nicht, mal die normativen Setzungen infrage zu stellen? Hätte Ihre Autorin bedacht, was der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper postulierte, nämlich dass eine These nicht nur zu verifizieren, sondern sie auch zu falsifizieren sei, hätte dies bedeutet, eben die Vorzeichen, Setzungen und Normen des zivilisatorischen, insbesondere des schulischen Zusammenhangs kritisch zu betrachten...
Kann ferner Ihre Autorin ignorieren, dass im Mittelpunkt einer freiheitlich demokratischen Lebensform der Mensch, das Subjekt steht, weshalb dem Staat allenfalls eine dienende („subsidiäre“) Funktion zukommt? Eine auf Gewalt und Zwang (selbst „Zwangsbeglückung“) beruhende Institution Schule, selbst wenn sie vom Staat getragen wird ist absolut kontraproduktiv; es bleibt festzuhalten, der Schulanwesenheitszwang verstößt gegen die Würde des Menschen und ist und bleibt damit verfassungswidrig.
Für mich, der ich mich seit fast fünf Jahrzehnten intensiv dem Recht des Menschen widme, selbstverständlich frei sich zu bilden, kommt beim Lesen dieses Beitrags wechselweise Zorn auf und Mitleid mit den vielen jungen Menschen, die durch eben diese widersinnigen – und widerlichen – Ausführungen weiter und weiter gepiesackt werden: arme stigmatisierte, kriminalisierte oder medikalisierte Menschen, denen im Namen von längst obsoleten Gedanken ein erfülltes, sinnvolles Leben verwehrt wird, das uns allen wahrlich nur gut bekäme! Es tröstet mich ungemein, dass die Zahl derer steigt, die sich davon, was Ihr Beitrag an Gewalt transportiert, nicht mehr einschüchtern oder beschämen lassen und die gegen ihre Zwangs-Beschulung aktiven Widerstand leisten – und damit gottlob sogar durchkommen!
Der Institution Schule wird es ähnlich ergehen wie so manchen Regimes, die an ihrer Dummheit zusammengebrochen sind und weggefegt wurden. Ich jedenfalls werde nicht aufhören, Menschen darin zu ermuntern, zu unterstützen, zu begleiten, sich als Subjekte ihres Lebens jenseits der Beschulungsideologie zu positionieren und sich als Träger und Präger des Prozesses zu sehen, zu fühlen, zu verhalten, selbstverständlich frei sich zu bilden.
Übrigens: Sollte Ihre Zeitung mal darüber berichten wollen, was jenseits der Schule ist und sich dem Innovativen, Naheliegenden, Lebendigen und Menschlichen des Prozesses, selbstverständlich frei sich zu bilden, widmen wollen: Gerne stehe ich Ihnen hierfür zur Verfügung!
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Bertrand Stern
freischaffender Philosoph und Schulkritiker
Siegburg
www.bertrandstern.de

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